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warum uns das nett sein so schwer fällt

„Die Menschen müssen sich so verhalten, dass sie sich nicht zu rechtfertigen brauchen, denn eine Rechtfertigung setzt immer einen Fehler oder die Vermutung eines Fehlers voraus.“ – Niccolò Machiavelli, Briefe an die Zehn, 11. April 1505


wer kennt folgende situation nicht: es ist früh am morgen, man möchte in die arbeit/uni/schule o.ä. fahren. die s-bahn kommt, man steigt ein und -hurra!- man bekommt den letzten sitzplatz. nun aber bemerkt man eine betagte dame in der nähe, die leider nicht so schnell war und sich jetzt mit ihren dürren fingerchen stehend an der stange festhält.

zwangsläufig stellt sich bei mir nun die große frage: aufstehen oder nicht? natürlich, würde ich korrekt das in die tat umsetzen, was mir meine eltern und die pfadfinder in über zwei jahrzenten eingetrichtert haben, würde ich jetzt aufstehen, mit einem lächeln der dame den platz anbieten und mich selbst mit dem stehplatz begnügen. schließlich sitze ich ja sowieso den restlichen tag irgendwo herum. meistens wird dieser gedankengang von ebenjener dame unterbrochen, die -grundsätzlich mir- einen schwerbehindertenausweis unter die nase hält und ihr recht einfach einfordert.

fehler 1: ich habe zu lange gewartet. jetzt kann ich es nicht mal mehr aus freien stücken tun und den anderen mitfahrern dadurch ob meiner hilfsbereitschaft ein schlechtes gewissen bereiten.

fehler 2: ich rege mich innerlich meistens furchtbar drüber auf. ich habe den weg zur s-bahn-haltestelle nur mit knapper not und unter aufbringung aller selbstdisziplin hinter mich gebracht, weil: es ist früh am morgen. die bahn ist übervoll. es stinkt schon wieder nach aufdringlichem parfum und weichspüler, nach menschenschweiß und dingen von denen ich um die uhrzeit nichts wissen will. schüler schreien sich die ergebnisse der mathehausaufgabe ins gesicht, damit auch wirklich jeder weiß wie cool sie sind. da ich am vorigen abend natürlich nicht um zehn ins bett gekommen bin, haben auch die drei tassen schwarzer kaffee in der früh nichts geholfen. und dann kommt eine rentnerin ausgerechnet zur hauptverkehrszeit in die s-bahn geschlappt und vertreibt mich von meinem sitz, obwohl sie doch eigentlich den ganzen tag zeit hätte. warum fährt sie nicht mit einer späteren bahn?

aber: jeder hat das recht, wann er will mit der s-bahn zu fahren. sogar schafherden dürfen laut mvv-bestimmungen den ÖPNV benutzen, solange sie beim ein- und aussteigen keine verzögerung verursachen…

der springende punkt ist also der: ich habe für mich gute gründe nicht aufzustehen. die dame hat für sich bessere gründe, ihren platz einzufordern. was naturgemäß zu einem konflikt führen muss.

vielleicht sollten sich die damen und herren mal überlegen, ob es wirklich notwendig ist, zu arbeitnehmer-stoßzeiten die s-bahn zu benutzen und den genervten pendler mit penetrantem und vorwurfsvollem mit-dem-behinderten-ausweis-vor-der-nase-rumwedeln die stimmung endgültig zu verderben.

vielleicht sollten wir „anderen“ aber auch einmal über folgendes nachdenken: würde ich es anders machen in ihrer situation? wahrscheinlich nicht. sehr viel wahrscheinlicher ist, dass jeder einzelne seinen ganz persönlichen grund für sein verhalten hat. und es ist wahrlich nicht ans uns darüber zu urteilen. und würde es mir wirklich (und damit meine ich ganz ehrlicherweise) schaden, zwanzig minuten in der bahn zu stehen? wem würde es mehr schaden? der dame oder mir? warum zögern wir meistens, jemandem die türe aufzuhalten oder etwas , das heruntergefallen ist, aufzuheben?

die antwort ist so leicht wie unangenehm: weil wir alle ununterbrochen das gefühl haben, zu kurz zu kommen. sätze wie „für mich würde das auch keiner machen“, „immer ich, die anderen können ruhig auch mal…“, „wenn ich das jetzt mache verpasse ich dieses oder jenes“ gehen jedem in so einer situation durch den kopf. der moderne mensch, der (rein theoretisch) alles besitzt was er braucht und noch viel mehr ist -trotz allem- dauernd davon überzeugt gerade übervorteilt zu werden. er ist der meinung, dass eine sekunde nur dann sinnvoll genutzt ist, wenn man das maximum für sich herausgeholt hat. erschreckend ist, dass wir die not anderer mittlerweile als störung betrachten. als unterbrechung des persönlichen, positiven „flows“ in dem wir uns als potentieller winner-typ gerade befinden. weil sie uns an unsere eigenen schwächen erinnert. und in einer zeit in der alle so sein wollen wie die frauen und männer aus der werbung oder der lieblingsserie -schön, erfolgreich und alle möglichst dem „ideal“ entsprechend- passen vermeintliche schwächen nicht zum image.

möglicherweise aber würde ein bisschen mehr selbst-zwang zur hilfsbereitschaft unserem image viel besser tun? und wenn man nur oft genug seinen „inneren schweinehund“ überwindet, dann wird soziales verhalten zum automatismus. man muss gar nicht mehr darüber nachdenken, wie man sich jetzt verhalten soll oder möchte. und spätestens dann macht es einem auch gar nichts mehr aus.

Dr. Dr. Rainer Ehrlinger meint dazu:

»Der ICE am Freitagnachmittag ist meist total überfüllt, sodass man reservieren sollte, wenn man einen Sitzplatz möchte. Als ich neulich von Berlin nach Köln fuhr, stieg in Spandau eine alte Dame zu und bat mich sehr freundlich, ihr doch meinen Platz zu überlassen. In der U-Bahn wäre ich sofort aufgestanden, aber ich hatte noch vier Stunden Fahrt vor mir und keine Chance auf einen neuen Sitzplatz. Außerdem hatte ich für den Platz bezahlt. Die Dame hätte doch auch reservieren können, oder?« GUNNAR K., Berlin

Das Problem der Vorsorge kennt man aus La Fontaines Fabel von der Grille und der Ameise: Die Grille hatte den ganzen Sommer lang gezirpt, während die Ameise fleißig war. Als dann der Winter kam und die Grille die Ameise bat, ihr von deren Vorräten abzugeben, fragte die Ameise nur, was die Grille im Sommer getan habe. Diese antwortete: »Durch mein Singen die Leute ergötzt«, worauf die Ameise zynisch meint: »Durch dein Singen? Sehr erfreut! Weißt du was? Dann tanze jetzt!«. Was bedeutet das nun genau? Über die Moral dieser Fabel lässt sich streiten, eher zu einem Ergebnis kommt man, wenn man die Alternativen durchdenkt. Sie schreiben selbst, dass Sie in der U-Bahn aufgestanden wären, nicht jedoch, wenn vier Stunden Fahrt vor Ihnen liegen. Das gilt aber auch umgekehrt: Soll die Dame vier Stunden stehen? Wahrscheinlich würde sie es körperlich schlicht nicht durchstehen. Natürlich hätte auch sie sich um eine Reservierung kümmern können; nur hilft das nicht weiter, wenn sie kurz vor Hannover im Gang zusammenbricht, weil Sie die hartherzige Ameise gegeben haben. Rekurse auf Versäumnisse in der Vergangenheit sind im Strafrecht und in der Erziehung sinnvoll und nützlich, sonst für das Zusammenleben meist nicht sehr förderlich. Ich kann Ihren Unmut verstehen, nur sehe ich tatsächlich wenig andere Möglichkeiten. Wenn Sie dringend arbeiten müssen oder völlig erschöpft sind, verweisen Sie darauf und bitten Sie die Dame, jemand anderen zu fragen. Sonst aber müssen Sie wohl in den sauren Apfel beißen. Denn wenn jeder auf den Nächsten deutet, steht die Dame bis Köln. Ich würde allerdings den Schaffner ansprechen, ihm die Lage schildern und ihn fragen, ob es nicht noch einen Sitzplatz für Sie gebe. Es würde mich sehr wundern, wenn sich nicht spätestens ab dem nächsten Halt etwas für Sie fände.

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